Herr Weißflog, Sie sind rund 21.500 Mal von einer Schanze gesprungen. Ist Skispringen hauptsächlich die Kontrolle über Angst oder maximale Konzentration, wenn es mit über 90 km/h durch die Lüfte geht?
Jens Weißflog: Es ist zu neunzig Prozent wie Autofahren. Es sind Abläufe, die gegenwärtig sind und über die man nicht weiter nachdenkt, wie, wenn man im Auto einen Gang höher schaltet. Die anderen zehn Prozent sind Gegebenheiten, die die Routine beim Sprung auseinanderpflücken können. Der größte Störenfried eines perfekten Sprunges heißt Wind. Man sieht ihn nicht, sondern man spürt nur diese mächtigen Kräfte, die da wirken. Jede Windsituation ist neu und das bringt Unsicherheit. Es gab Momente, da betrachtete ich den Wind in den Bäumen und wusste: Heute ist kein guter Tag für einen Absprung.
Wie kamen Sie zum Skisprung?
Hier im Erzgebirge wurde früher wie heute Ski gefahren. Als Sportaktivität rückte für mich in erster Linie die Nordische Kombination in den Fokus. Doch zum Laufen war ich zu faul. Somit blieb es beim Skisprung. Als Kind baute ich mir kleine Schanzen, mit einem Meter Weite hatte es angefangen. Als ich dann zur Kinder- und Jugendsportschule in Oberwiesenthal kam, stand für mich fest: „Ich will Olympiasieger werden“. Mein Idol, der Oberwiesenthaler Ulrich Wehling, der dreimal Olympiasieger in der Kombination wurde, bekam als Preis einen neuen Wartburg. Das Auto wollte ich auch. Ich konnte mir – nach meinem Sieg in Sarajevo – einen hellgrünen Trabbi kaufen. Immerhin ohne Wartezeit und mit Sonderausstattung.
Es gab in Ihrer Kindheit aber auch Ballettambitionen hört man…
Als Kind habe ich das gern im Fernsehen gesehen. Die Sprünge der Eiskunstläufer fand ich toll und probierte sie selbst im Wohnzimmer aus: Von der Türschwelle bis rüber zum Teppich.
Ihr erster Olympiasieg war 1984 in Sarajevo. Alle DDR-Sportler fuhren 36 Stunden mit dem Zug ins damalige Jugoslawien – statt zwei Stunden zu fliegen. Hatten Sie damals innerlich mit dem Kopf geschüttelt?
Die Zugfahrt empfand ich als angenehmen. Trainingsmethodisch war so eine lange Reise natürlich völliger Irrsinn, weil wir Sportler uns kaum bewegen konnten. In einem der Waggons gab es eine Art Trainingsraum mit Fahrradergometern auf denen sich alle Sportler abwechselten. Die Zugreise hielt die DDR möglicherweise für sicherer. Ein Jahr zuvor, zu den vorolympischen Wettkämpfen, saßen wir jedenfalls im Flugzeug zu den Austragungsstätten.
Wer war in Ihrer Karriere ihr engster Vertrauter, Ihr größter Unterstützer?
Mein Trainer Joachim Winterlich. Er war viele Jahre mein Motivationscoach und Technikberater, erst im Parallel-, dann bei der Umstellung auf den V-Stil. Wir durchlebten gemeinsam alle Höhen und Tiefen. Mit ihm feierte ich meine ersten Erfolge. Ich bin ihm sehr dankbar. Eine Zeitung betitelte ihn zu Recht als „Skisprung-Jahrhundert-Trainer“.
Rückblickend, was war Ihr bester Sprung?
Das war mein letzter Sprung am 15. Juni 1996 von der Fichtelbergschanze. Das Abschiedsspringen auf meiner Hausschanze war als Geste an meine Fans gedacht. Ich hatte extra dafür trainiert und wollte mich nach 15 Jahren Spitzensport verabschieden. Es gibt wenig Sprünge, bei denen alles passt, wo man alles fühlt, doch an diesem Tag war alles perfekt. Das hat mit der Psyche zu tun. Die Anspannung in den Wettkämpfen war immer extrem hoch, man ist wie in einem Tunnel. Nun war der Druck weg, ich war frei, frei von Erwartungshaltungen. Ich sprang an diesem Tag zweimal Schanzenrekord von 102 Metern. Den Tagessieg überließ ich jedoch Janne Ahonen.
Welchen Sprung haben Sie total vermasselt?
Mehrere (lacht). 1987 lief es für mich in Oberstdorf auf der kleinen Schanze nicht gut, ich verhaue und war auf dem 18. Platz. Mein Trainer machte mir Mut, sagte, der Wind ließe nach. Ich dachte, lass ihn erzählen…Aber es stimmte, letztendlich sprang ich dann Durchgangsbestweite. Am Ende fehlte aber ein halber Punkt und ich wurde Fünfter. Man beißt sich in solch einer Situation in den Hintern.
Leistungssport in der DDR war extrem gelenkt, gesteuert. Wie war das für Sie?
Das war kein reales Leben, ich lebte damals wie in einer Blase. Für uns Leistungssportler wurde alles organisiert. Wir wurden rundherum geschützt, das war ein eigenständiges System. Man ist stark auf sich fokussiert. Meine Erfolge und die von anderen Sportlern waren für die DDR Mittel zum Zweck: Die Überlegenheit gegenüber Gegnern des Systems.
Bei Interviews zu DDR-Zeiten im Westfernsehen waren Sie nie allein mit dem Moderator. Kamen sie sich bevormundet vor?
Ich kannte das nicht anders. Eine Episode, die ich wirklich befremdlich fand war diese: Mein erster Besuch im „Aktuellen Sportstudio“ 1985 zur Weltmeisterschaft. Beim Interview saß der Generalsekretär des DDR-Skiläuferverbandes neben mir. Für die Auftritte gab es Geld, rund 200 D-Mark. Er sagte dann, dass wir das nicht annehmen, die DDR sei nicht käuflich. Ich dachte nur, oh Mann, davon hätte ich mir doch eine gute Bohrmaschine oder etwas anderes kaufen können.
Finden Sie es schade, dass Ihre aktive Zeit, Ihre vielen Erfolge, vorbei sind?
Nein. Aber sportliche Ereignisse – zum Beispiel bei Olympia 2024 in Paris – berühren mich nach wie vor. Wenn Sportler auf dem Siegerpodest stehen, egal welcher Sport, werde ich emotional. Ich weiß, wie hart man für seine Erfolge trainieren muss.
„Er ist unser Held“, „Wir sind so stolz auf ihn“- das sagt Ihre große Fangemeinde auch heute noch. Wenn Sie den Raum betreten, applaudieren die Leute. Wie erklären Sie sich das?
Oft denke ich: Das ist wirklich verrückt. Vielleicht ist es die Faszination des Skispringens, nur wenige probieren das mal aus. Heutzutage ist vieles so schnelllebig geworden, viele erfolgreiche Sportler werden im Marketing und in der Medienlandschaft schnell verbrannt. Ich kann es mir nur so erklären: Früher hatte man mehr Zeit zum gemeinsamen Fernsehen. Der Wintersport war damals ein Familienereignis und viele erinnern sich daran zurück. Nach meiner Sportlerkarriere war ich noch lange für die Zuschauer als Skisprung-Experte beim ZDF präsent.
Sie werden ab und zu der „Floh vom Fichtelberg“ genannt – woher kommt der Ausdruck?
Jeder hier im Erzgebirge hat einen Spitznamen, der große Floh – das war mein Bruder – und ich war eben der kleine Floh. Der „Floh vom Fichtelberg“ ist also keine Idee von Sportkommentator Heinz Florian Oertel!
Vom Sportler zum Gastgeber, haben Sie sich mit Ihrem Hotel neu erfunden?
Im Fokus meines Lebens war immer das Skispringen. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich nach meiner Sportkarriere machen wollte. 1995 begann meine letzte Saison, in diesem Jahr gab es auch die Idee zu einem Hotel unter meinem Namen. Mehrere Gesellschafter und ich kauften das „Mielke-Heim“, das ehemalige Ferienheim der Staatssicherheit, hier in Oberwiesenthal von der Treuhand und bauten es bis Herbst 1996 um. Einst hatte ich auch Ideen in Richtung Gesundheitssport und einem Gesundheitscenter.
Sie haben den Dalai Lama getroffen, zahlreichen Politikern die Hand geschüttelt, mit Stars geplaudert. Welches Erlebnis werden Sie nie vergessen?
Jede einzelne Begegnung bleibt in Erinnerung. Doch etwas ganz Besonderes war die Kubareise nach meinem Olympiasieg in Sarajevo. Alle erfolgreichen DDR-Sportler waren vier Wochen mit der „Völkerfreundschaft“ – der AIDA des Ostens – unterwegs. Wir Sportler fühlten uns in einer Gemeinschaft, Party inklusive. Auf dem Schiff waren rund ein Drittel Sportler – und zwei Drittel Funktionäre. Es war trotzdem eine sehr schöne Zeit. Aber keine Reise ohne Training: zwei Mal am Tag machten wir Sport.
Hatten Sie bei Wettkämpfen einen Glücksbringer dabei?
Ganz ehrlich, Sportler glauben an jeden Quatsch! Ich hatte einen Pullover mit einem Tigerkopf immer dabei – ich wollte bissig sein, mich durchbeißen. Außerdem habe ich zuerst den linken und dann den rechten Schuh vor Wettkämpfen angezogen.
Stichwort Erholung und Tourismus im Erzgebirge. Was hat sich verändert?
Die Natur hier am Fichtelberg ist etwas Besonderes. Wir haben hier keinen Massentourismus, es gibt noch Stille und Ruhe. Viele, die hierherkommen, wollen sich im Sommer von der Hitze in den Städten erholen. Wir haben manchmal bis in den Juli hinein kühle Abende. In puncto Wintersport gibt es hier noch viel Potenzial. Früher war es so: Wir haben uns nach der Natur gerichtet. Wenn der Schnee kam, sind wir Ski gefahren, heute muss der Schnee pünktlich zur Urlaubszeit parat sein. Unser Skigebiet muss dringend modernisiert werden. Die Wintersportler wandern nach Tschechien ab, denn Schlepplifte sind nicht mehr angesagt, die Leute wollen bequem per Sessellift auf den Berg. Das andere: Skifahren ist teurer geworden, auch im Nachbarland. Einige lehnen es aus moralischen Gründen, aus Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten, ab. Der Trend geht Richtung wandern und vor allem rodeln, doch auch dafür braucht es Schnee. Seit dem Jahr 2000 haben wir in der Region weniger Niederschläge und die Kälteperioden werden kürzer.
Zu Ihrem 60. Geburtstag haben Sie Ihr Museum mit all den Pokalen und Erinnerungen eröffnet, haben Sie noch weitere Pläne auf Lager?
Ich habe viele Ideen zum Umbau des Hotels. In einigen Jahren möchte ich allerdings hier nur noch Hausmeister sein, den Rasen mähen und ich komme zum Kaffeeklatsch vorbei. Zu meinem 60. Geburtstag wurde mir klar, wie schnell die letzten zwanzig Jahre vorbei gingen. Ich fragte mich: Was möchte ich in der mir verbleibenden Lebenszeit machen? Die Antwort: Vor allem geht es mir um viele Erlebnisse, gemeinsam mit der Familie. Und ich möchte gern hundert Jahre alt werden. Dafür muss ich aber etwas mehr Sport machen…